„Wir sind die Fachleute für Pandemien“

Interview mit Sigrid Junge über Hygienemaßnahmen, Vorratshaltung und die Bereitschaft der Pflegekräfte, sich einem neuartigen Virus in den Weg zu stellen.

Wie haben Sie als Leiterin der Abteilung Altenhilfe den Tag vor dem Shutdown erlebt?

„Überraschend ruhig. In den Medien wurde ja schon seit Wochen über die Dramen in China und Italien berichtet, plötzlich kam die Bedrohung auch hierzulande an. Trotzdem: Unter den Beschäftigten brach keine Panik aus. Viel eher war da das Gefühl: Was auch kommen mag, wir sind vorbereitet, zusammen schaffen wir das. Jeden Herbst finden seit 2007 Pandemie-Schulungen statt, wegen Corona hat es zusätzliche Schulungen gegeben. Die waren im Januar und Februar 2020. Meine größte Sorge war, dass wir zu wenig Schutzkleidung haben könnten.“

Wussten Sie sogleich, was Sie zu tun hatten?

„In der Altenpflege kommt es öfter zu Virus-Ausbrüchen. In den Herbst- und Wintermonaten haben wir öfters den Norovirus in den Einrichtungen. Seit März 2 0 2 0 k amen dann noch etwa 200 Covid-19-Verdachtsfälle dazu, etwa ein Drittel davon waren Pflegekräfte. Alle wurden getestet, keiner war infiziert. Wir haben unser Tun in jahrelanger Praxis erprobt und wissen, worauf es in Ausnahmesituationen ankommt.“

Wichtigste Regeln, die Sie für die Mitarbeitenden aufgestellt haben?

„Strikte Schutzmaßnahmen. Intensive Schulungen. Auf Sicht fahren. Immer dafür sorgen, dass ausreichend Schutzkleidung vorrätig ist.“

Wie hat die Kommunikation funktioniert?

„PDL, Leitungskräfte und wir – Pflegereferat – standen in ständigem Austausch miteinander. Per Videokonferenzen, telefonisch oder in vielen Einzelgesprächen. Jederzeit waren sie für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ansprechbar, das gab Orientierung und Sicherheit. Auch im Auftreten gegenüber Angehörigen, die partout ins Altenheim wollten und sorgsam abgewiesen werden mussten.“

Wie ist der Stand jetzt?

„Wir sind dabei, alle Einrichtungen Schritt für Schritt zu öffnen. Die größte Herausforderung aktuell ist, soziale Teilhabe der Bewohner und Infektionsschutz zusammenzubringen.“

Wie war die Stimmung bei den Beschäftigten zu Beginn der Pandemie – und wie ist sie heute?

„Anspannung und Unsicherheit waren zu Beginn groß, doch die meisten blieben ruhig und besonnen. Trotz der vielen Krankheits und Todesfälle in Einrichtungen rundherum in der Region. Trotz Dauerbelastung und knapper Personalressourcen. Die Bereitschaft war da, gegebenenfalls mit Bewohnern in Quarantäne zu gehen. Jetzt geht es eher darum zu schauen, wie jede und jeder Einzelne zu Kräften kommt und motiviert bleibt.“ Gab es Widerstände, Ängste, Ausfälle? „Tatsächlich habe ich zuerst mit Ausfällen gerechnet. Es kam anders: Die Krankenquote war niedrig. Wahrscheinlich haben die Mund-Nase-Masken auch vor ganz normalen Erkältungskrankheiten geschützt. Auf die Dauer ist es allerdings schwierig, Leistung, Konzentration und mentale Stärke auf hohem Level zu halten. Aber bisher gab es keinen Knick. Dafür bin ich allen Mitarbeitern dankbar.“

Blick nach vorn: Gehen die Pflegekräfte gestärkt und mit neuem Erkenntnisgewinn aus der Krise hervor?

„Wie wichtig unsere jährlichen Schulungen sind, haben jetzt alle begriffen. Das Bevorraten mit Schutzkleidung wird auch deutlich ernster genommen. Ich hoffe, diese Erkenntnisse werden nicht so schnell vergessen.“

Hat der Pflegeberuf dauerhaft an Renommee gewonnen – oder ist das nur ein vorübergehendes Phänomen?

„Pflegekräfte leisten schon immer einen hohen Beitrag für Gesundheitsprävention und Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Während der vergangenen Monate haben die meisten im Land begriffen, wie wertvoll und unverzichtbar, kurz: wie systemrelevant unsere Arbeit ist. Wir sind die Fachleute für Pandemien. Es ist gut, dass sich das jetzt herumgesprochen hat.“

Welche Lehren ziehen Sie persönlich aus der Krise?

„Es war richtig, dass ich meiner inneren Wachsamkeit vertraut habe. Mein Erfahrungswissen in der Altenpflege mit neusten Erkenntnissen der Virologen und Epidemiologen zu paaren. Sich bestmöglich zu informieren, um Zusammenhänge zu verstehen. Es war richtig, dem Virus immer einen Schritt voraus sein zu wollen. Persönlich denke ich: Unsere Branche sollte lauter werden. Wenn wir auch nach Corona von der Politik gehört werden wollen, dürfen wir nicht leise sein und anderen den Vortritt lassen.“ (spi)